Wann hast du zuletzt einen langen Text zu Ende gelesen – ohne Scroll-Drang, ohne Ablenkung?
Lesen – ein Thema, dem ich mich hier schon vor einiger Zeit in einem Beitrag zum Thema „Lesen“ und „Leseförderung“ geäußert. Das ist ein Thema, das mich irgendwie so gar nicht loslässt. Ich habe die Angewohnheit, Dinge, die mir im Kopf herumschwirren schon mal aufs Papier zu bringen, bis ich sie irgendwann brauche. Heute war es wieder einmal so weit. Ich habe im Internet einen Artikel der ZEIT entdeckt und bin daraufhin zum Kiosk, um mir die neueste Ausgabe zu kaufen. Der Artikel war online hinter einer Paywall versteckt. Er trägt die etwas provokante Überschrift
Ein Buch lesen? Ganz?!
Sofort war mein Interesse geweckt, weil ich mir schon länger Gedanken darüber mache. Können wir noch lesen? Sind wir dabei es zu verlernen? Ich bin auf dieses Problem während meiner Arbeit als Buchhändler gestoßen. Ich bin die Kinderbuchfee und merke immer mehr, dass es Kindern immense Schwierigkeiten bereitet Bücher zu lesen. Auch sind sie – für meine Begriffe – sehr spät in der Lage überhaupt längere Texte zu lesen. Einige sind recht verzweifelt, wenn eine Buchvorstellung ansteht. Das wird dann bis aufs Letzte herausgezögert und dann sind sie den Tränen nahe, wenn sie sehen, wie dick das Buch ist. Aber Kinder sollten altersentsprechende Bücher lesen. Ich bin froh, dass auch viele Lehrer dieser Meinung sind.
Ich weiß nicht, ob es mich beruhigen oder beunruhigen sollte, dass das kein persönliches Empfinden, sondern ein momentan weit verbreitetes Problem ist. Die Zeit schreibt: „Erstaunlich viele Menschen scheitern heute an langen Texten.“ Ja, das machen sie. Aber warum?
Ich finde es beruhigend, dass es Leute gibt, die sich mit diesem Problem befassen. Aber ich finde es auch beunruhigend, dass sie es müssen? Ergibt das Sinn?
Wenn Michael Sommer, Althistoriker, von der Universität Oldenburg sagt, dass 70 bis 80 Prozent der Studenten massive Probleme haben, sich nur mittelschwere Texte zu erarbeiten, was sagt das über unser Bildungssystem? Warum erkennt niemand das Problem? Oder wird es einfach ignoriert?
Die Autoren des Artikels in der Zeit (Anant Agarwala und Martin Spiewak) stellen darin die provokante Frage, ob das womöglich ein Zeichen ist, dass das Lesen insgesamt infrage steht. Ich hoffe doch nicht!!!
Noch mehr verstört mich allerdings die Aussage, dass wohl gerade unter den angehenden Lehrern das Lesen alles andere als selbstverständlich ist. Was? Wie kann das sein? Die Lehrer sollen den Kindern Lesekompetenz beibringen und haben sie selbst nicht? Das wäre so, als würde ich jemandem beibringen eine Rakete zu fliegen, ohne es selbst zu können.
Problem erkannt – Lösung zur Hand ?!
Ich habe mich durch den ziemlich langen Artikel in der Zeit gelesen, mich auch durch sehr lange Texte von Googlesuchergebnissen gewühlt und ein längeres Gespräch mit ChatGPT geführt, aber die ultimative Lösung habe ich nicht gefunden. So wie es aussieht, gibt es dieses Problem nicht nur in Deutschland. Also haben dieses Problem alle Länder? Alle? Nicht alle! Es gibt Ausnahmen. Einige weit weg, einige in der Nähe.
Länder wie Singapur, Estland und Finnland, die in der Lesekompetenz besonders gut abschneiden, verfolgen teils sehr unterschiedliche, aber konsequente Bildungsstrategien. Und ich finde sie eigentlich so einfach, dass ich mich frage, warum das in Deutschland nicht getan wird.
1. Frühzeitige und systematische Leseförderung
Estland und Finnland legen sehr großen Wert auf eine frühe Leseförderung, oft schon im Vorschulalter. Lehrkräfte nutzen hier kindgerechte, forschungsbasierte Methoden – ohne Leistungsdruck. In Estland wird digitalen Medien ein pädagogisch sinnvoller Platz zugewiesen – nicht zu viel, aber sie werden auch nicht ignoriert.
2. Hohe Qualität der Lehrkräfte
In Finnland und Japan haben Lehrkräfte eine akademische Ausbildung auf Master-Niveau. Der Lehrberuf ist dort hoch angesehen und es gibt eine sorgfältige Auswahl und Ausbildung. Eine ständige Fortbildung ist selbstverständlich.
3. Chancengleichheit und geringe soziale Unterschiede
In Ländern wie Estland oder Finnland ist der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungserfolg vergleichsweise gering. Die Schulen sind dort gut ausgestattet und vergleichbar in ihrer Qualität – es gibt kaum „schlechte Schulen“. Also gleicher Standard für alle. In Singapur wird mit einer gezielten Förderung versucht, jedes Kind zum Erfolg zu bringen. Der familiäre Hintergrund ist dabei völlig unabhängig. Gleiche Bildung für alle.
4. Fokus auf Verständnis statt Auswendiglernen
Besonders in Finnland wird großer Wert auf das sinnverstehende Lesen gelegt – es geht darum, Inhalte kritisch zu durchdringen, nicht nur Fakten zu wiederholen. Dafür sind Schulbücher und Unterrichtsmaterialien entsprechend gestaltet: weniger Masse – mehr Tiefe.
5. Bildungspolitik mit langfristigem Plan
Diese Länder haben ihre Bildungssysteme über Jahre hinweg konsistent weiterentwickelt – ohne ständige Richtungswechsel. Diese Entscheidungen basieren meist auf wissenschaftlichen Fakten und werden von Forschungen begleitet.
Und in Deutschland?
Ich habe das Gefühl, jedes Bundesland macht, was es will. Für mich scheint es keinen einheitlichen Plan für den Unterricht zu geben und von den maroden, teilweise in sich zusammenfallenden, Schulen will ich gar nicht reden.
Momentan werden medienträchtig die Minister unserer neuen Regierung vorgestellt. Ich vermisse jemanden, der sich um dieses Problem kümmert. Der Bildungsminister? Ich weiß nicht …
Dabei sind die Probleme bekannt. Ich konnte sie mit etwas Recherche und logischem Denken herausfinden. Oder lag es an meiner Fähigkeit, mir den Inhalt aus langen Texten herauszufiltern? Der Einfachheit halber kann ich sie hier gerne in kürzerer Form niederschreiben.
1. Social Media formt unser Leseverhalten
Viele Jugendliche konsumieren täglich Kurztexte auf Social Media – also stark verkürzte, emotionalisierte Inhalte. Das Gehirn passt sich an: Es gewöhnt sich an das schnelle Scrollen und springt bei längeren Texten schnell ab. Die Konzentrationsfähigkeit sinkt, das „Durchhalten“ bei einem längeren Text wird zur Herausforderung – nicht intellektuell, sondern rein mental.
2. Lesen nur für die Prüfung?
In der Schule wird Lesen oft funktional vermittelt: Man liest einen Text, um Aufgaben dazu zu beantworten – selten um des Lesens willen. Längere Texte (z. B. literarische Werke) werden oft nur noch auszugsweise oder als Pflichtlektüre behandelt – ohne Raum für echte Auseinandersetzung oder Begeisterung. Und dann diese Frage: Was will uns der Dichter damit sagen? Keine Ahnung – soll ich den Spaten holen und ihn ausgraben? Es geht nicht darum, was der Dichter wollte, sondern was ich im Text finde. Und das ist für jeden anders.
3. Keine Bücher, keine Vorbilder
In vielen Haushalten wird gar nicht oder kaum gelesen. Wenn Bücher kein Teil des Alltags sind, fehlt die Gewöhnung an den Umgang mit Texten – auch bei klugen und leistungsfähigen Schülern.
4. Wissen ohne tiefe
Der Lehrplan ist voll. Die Inhalte werden oft „durchgearbeitet“, aber nicht verstanden. Diskussionen über Texte, kritisches Hinterfragen oder Verbindungen zu anderen Themen sind selten. Dadurch entsteht wenig Textverstehen in der Tiefe – was das Lesen von Fachtexten oder Essays an der Uni erschwert.
5. Leseschwäche? Kein Thema!
In Grundschulen bleibt Leseförderung oft an freiwilligen Projekten hängen. Sekundarstufen übernehmen das selten. Viele Jugendliche kommen mit Lücken in Grammatik, Wortschatz und Textverständnis bis ins Abitur.
Ein paradoxes Ergebnis:
Selbst viele gute Schüler und Studierende schneiden bei Lesetests schwach ab – weil sie das schnelle, oberflächliche Lesen beherrschen, aber bei tiefem Textverständnis, Argumentationslogik oder kritischer Reflexion scheitern.
Und was machen wir jetzt damit? Wie nutzen wir diese Informationen?
Was wir jetzt brauchen, ist eine Stimme für das Lesen in der Politik – und viele kleine Stimmen, die laut werden.
Lesekompetenz ist mehr als eine schulische Fähigkeit. Sie ist die Grundlage für Teilhabe, Bildung, Demokratie. Und sie darf nicht stillschweigend verloren gehen.
Was es braucht, ist nicht nur politische Verantwortung – es braucht auch Menschen, die hinschauen, laut werden, Bücher sichtbar machen.
Ich bin Buchbloggerin. Ich bin Buchhändlerin. Ich liebe das Lesen. Und ich finde: Es ist Zeit, dass wir als Gesellschaft das Lesen wieder ernst nehmen.
1236 Worte – Jetzt habe ich einen sehr langen Text dazu geschrieben, dass viele nicht mehr in der Lage sind lange Texte zu lesen. Ich habe mir meinen Beitrag jetzt mehrmals durchgelesen und habe das Gefühl, mich in dieses Thema hereinzusteigern. Ein Zeichen, wie wichtig es ist.
Ich frage mich: Was kann ich tun? Als Buchbloggerin, als Buchhändlerin, als Leserin?
Und ich frage dich: Was kannst du tun?
Lesen ist kein Luxus. Es ist die Grundlage für alles. Lasst es uns nicht verlieren.